Berliner Morgen

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Durch das Piepsen des Weckers hindurch nehme ich ein Gluckern und Plätschern wahr. Es ist dunkel, kühl und aus den Fallrohren der Regenrinnen läuft Wasser in den Innenhof. Die Fenster sind sämtlich dunkel, strahlen etwas Abweisendes aus.
Ich ringe das übliche Weilchen mit mir, schlüpfe dann in meine Plastikklamotten, verlasse leise das Zimmer und hopple die drei Etagen hinunter, nach draußen. Im fahlen Schein der orangenen Straßenlampen glitzern Teile des Asphalts, ich biege ab in einen Weg am Kanal entlang, wo es so dunkel ist, daß ich langsamer laufen muß. Angst zu stolpern. Ich kenne die Gegend und doch ist sie etwas unheimlich.
Nach ein paar hundert Metern erreiche ich eine Brücke über den Kanal, ein Relikt aus Vorkriegszeiten. Da lief früher eine Bahnlinie entlang, die Görlitzer Bahn, von der heute noch ein Stück Damm inklusive ein paar schmaler stählerner Brücken übrig ist. Der Untergrund ist weich, der Blick aus leicht erhabener Höhe auf die verschlafenen dunkelgrauen Häuserreihen ebenso deprimierend wie heimelig. Es nieselt mir ins Gesicht. Kapuze auf, Kapuze ab, schwer mich zu entscheiden. Mir ist warm inzwischen, der Rhythmus stimmt. Links lasse ich den Treptower neben mir liegen und überquere an der S-Bahn entlang die Spree über die Elsen-Brücke. Die Ruhe erscheint mir für Berlin völlig unnatürlich.
Auch über die Kynaststraße, auf der ich mich quasi von hinten dem Ostkreuz nähere, fährt nur alle paar Minuten ein Auto, durch die Pfützen reichlich Gischt aufwirbelnd.
Auf der anderen Seite, in den sich endlos aneinander reihenden Häuserschluchten von Friedrichshain, wird das Straßenlicht abgeschaltet, noch sehr früh, für so einen trüben Morgen. Die meisten Ecken kenne ich, habe ich schon durchschritten, habe in den Kneipen gesessen, indisch gegessen und die vielen bunten Lichter photographiert. Nichts von alldem ist jetzt davon zu erkennen. Fremd und abweisend wirken die Bürgersteige, nur Köterzerrer unterwegs. Und doch: seltsam geborgen im Unwirtlichen.
Am Anfang der Warschauer Brücke, gerade da, wo sich der Blick endlich wieder weitet, schickt mir eine Böe eine frische Ladung Nieselgischt ins Gesicht, während mir ein großer, dunkler Mann halb in den Weg tritt und “Hey, cool Mann! Geiles Tempo!” zuruft. Ich mache einen möglichst großen Bogen um ihn, atme so ruhig es geht gegen das plötzliche Herzklopfen an und sage mir: du mußt jetzt den Blick auf die Bahnanlagen genießen. Die gibt’s nicht mehr lange.
Unten am Bahnsteig tuckert eine S-Bahn im Leerlauf, daneben müht sich eine schwere Diesellok mit Schlafwaggons. Ein Anblick, dem nur mit Melancholie zu begegnen ist. Diesem angenehmen Gefühl, das vielleicht einfach nur aus guten Erinnerungen besteht. Dieses gern Hineintauchen in’s Vergangene, dieses gern Traurigsein darüber, daß es vergangen ist.
Unter den Gewölbebögen der Oberbaumbrücke hallen meinen Schritte, im Stroboskopblick nach Süden erhasche ich knappe Eindrücke vom Osthafen, nehme im Augenwinkel den Lastkran wahr, der – abgeknickt seit vielen Monaten – wirkt, als gebe er auf, buchstäblich.
Und dann bin ich seltsam froh, wieder im Wrangelkiez angekommen, die Gaslaternen noch brennend vorzufinden, mich zuhause zu fühlen, es warm, freundlich und anheimelnd zu finden.
Als sei das meine Welt.

2 gute Nachrichten

1. Die Provinz-Posse um die unsinnige Südumgehung scheint endlich wieder einmal ausgestanden zu sein, für die nächsten drei Jahre jedenfalls.
Der Grund: kein Geld. Ebenso lapidar wie eigentlich auch vorher abzusehen. War das ganze Theater um Bürgerbeteiligung, Trassenplanung etc eigentlich nur ein politisches Kabarett der CDU, um Wählerstimmen zu binden? Wissen die SPD-Ratsleute eigentlich morgens schon, wie sie mittags entscheiden werden?
Man kann sich nur an den Kopf fassen.
Aber nun einmal guter Laune, denn jedes weitere Jahr ohne diese blödsinnige Straße ist ein gewonnenes Jahr.
Und vielleicht, ganz ganz vielleicht, setzt ja in den Betonköpfen doch irgendwann mal so etwas wie ein Umdenkprozeß ein. Vielleicht merken die ja doch einmal, daß jenseits des Betons das Leben blüht, nicht auf ihm.

2. Das Güterverkehrszentrum soll gebaut werden.
Auf dem Gelände des ehemaligen Göttinger Güterbahnhofs soll eine Umladestation für Güter von LKWs auf die Eisenbahn entstehen. Fördermittel vom Land sind zugesagt.
Tatsächlich einmal ein konkreter Schritt in Richtung auf ein ökologisch verträglicheres und auch wirtschaftlich sinnvolleres Verkehrskonzept, die Rückverbindung von Schiene und Straße.
Ganz doll die Daumen gedrückt, daß es funktioniert!!!

Der Untergang

Der Film Der Untergang hat mir buchstäblich die Tränen in die Augen getrieben. Er hat mich schwer beeindruckt. Und bewegt.
Die letzten 2 Wochen des Dritten Reiches aus der Perspektive des Führerbunkers und all derer, die dort mit Hitler gemeinsam verharrten. Und dieser Hitler selber. Als Person. Nicht einfach nur, wie sonst üblich als Projektionsfläche politischer Ängste und als letztlich unerklärbares Phänomen.
Eindringlich gespielt, allerbeste Schauspieler, jede noch so kleine Nebenrolle ausgefeilt und wohl inszeniert, auch das Draußen mit enormem Aufwand dargestellt, das Dauerfeuer, das Berlin in den letzten Monaten des Krieges erlitt, die Lebensumstände der Zivilbevölkerung, die man kaum mehr als solche bezeichnen kann.
Intensiv werden nicht allein die geschichtlichen Ereignisse, sondern auch der diese Ereignisse bestimmende Geist vermittelt – und das nicht aus der sonst so gern eingenommenen historisierenden, abstrahierenden, von außen betrachtenden Perspektive, sondern von innen. Aus dem Erlebnishorizont mehrerer ganz unterschiedlicher Menschen. So hautnah, daß zumindest ich mich da kaum von distanzieren konnte. Und dies nicht nur bei den „Guten“.
Der Film kommt ohne moralischen Zeigefinger aus und ist doch nie gleichgültig, weder seinen Figuren gegenüber, noch „der Geschichte“ gegenüber. Gerade indem er nicht versucht alles zu erklären, sondern einfach nur einen kleinen Ausschnitt spielt, beweist er Respekt vor dem, was man vielleicht Wahrheit nennen könnte. Etwas, das immer nur subjektiv sein kann. Auch, wenn zig Millionen Subjekte davon betroffen sind.

Danach, auf dem Heimweg, sagte ich zu B., ich würde mich so deutsch fühlen. Und das meinte ich auch so. Mit all seinen schaurigen Implikationen.

Ich habe mich seit meiner frühen Kindheit für diese Geschichte (meiner Eltern) interessiert, immer mit starker emotionaler Beteiligung, weil eben durch Eltern und Großeltern sehr erlebnisnah vermittelt. Erzählungen zwar nur, aber viele und intensive.
Später, vor allem im Studium, habe ich mich den diversen Aspekten des Nationalsozialismus auch wissenschaftlich zu nähern versucht. Man näherte sich dem Jahr 1984, kannte seinen Orwell und konnte gar nicht anders als Analogien zu bilden.
Da gab es ein Seminar, das hieß Auschwitz als Gegenwart. Es hinterließ uns alle mit einer ausgeprägten Paranoia, weil man nun überall Auschwitz wähnte. Was sich dann irgendwann wieder relativierte.
Nach einigen Jahren Pause und dem Gefühl, es nun auch mal über zu haben, las ich ein Buch von Sebastian Haffner, seine persönlichen Erinnerungen an die Weimarer Republik. Und war sofort wieder tief im Thema. Es folgten die Autobiographien von Günter Lamprecht und Michael Degen, die beide als Kinder den Krieg in Berlin erlebten.
Eine erneute, wieder völlig persönliche Annäherung an das Thema. Es ist irgendwie mein Thema.

Nach Heiligenstadt


Seit nunmehr 15 Jahren zieht es mich immer mal wieder in dieses Städtchen im Eichsfeld. Eine gute Nase Ostluft schnuppern. Da ist zum Glück noch genug von übrig.
Die Fußgängerzone, im Wesentlichen aus einer Straße bestehend, war 1989 beeindruckend, weil so unerwartet belebt, geradezu großstädtisch wirkend in ihrem grauen DDR-Charme, seitdem auch immer mal wieder, meistens wegen beachtlicher Renovierungsleistungen.
Heute wirkte sie vor allem deprimierend, weil etwa ein Drittel der Ladenfläche leer steht. Reichlich frisch sanierte Fassaden, innen hohl. Nur riesige Plakatwände, die Verkaufsflächen anpreisen.
In der Parallelstraße zur Einkaufsmeile sieht es ohnehin schon gleich viel authentischer aus.

Worauf also hoffen?

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Wenn Schulen um Schüler buhlen

Die großen Kinder sind in der vierten Klasse und kommen nächstes Jahr auf eine höhere Schule. Gestern Abend gab es in ihrer Grundschule eine Infoveranstaltung, auf der LehrerInnen von 1 Hauptschule, 1 Realschule, 2 Gymnasien und 2 Gesamtschulen vorstellten, was die Kinder und uns erwartet.
Überrascht und sehr eigenartig berührt hat mich der Vortrag der Hauptschullehrerin, die solcher Art Reklame für ihre Anstalt machte, als könne es Eltern geben, die ihre Kinder da gern hinschicken wollten. Grundlagen für’s Leben vermittle die Hauptschule, vor allem Sinn für Ordnung…
Für vertiefte Grundlagen sei die Realschule zuständig. Und sie würden nicht jeden nehmen, betonte ihr Abgesandter.
Na toll, dachte ich.
Völlig souverän und großväterlich die beiden Gymnasial-Direktoren, vom Podium oben mit brummenden Bässen betonend, wie erfreulich für sie der ganz neue Umgang mit Fünftklässlern sei, dessen sie sich seit diesem Schuljahr erfreuen dürften. Es klang ein wenig, als würden sie die Kleinen in ihren großen Pausen einen nach dem Andern zum Nachtisch verspeisen, gemeinsam…
Nein, sie klangen aber nett, vertrauenswürdig, sonor, bildungsbürgerlich tugendhaft, mit natürlicher Autorität reichhaltig ausgestattet und besorgt um das Wohl unserer Kinder, die nun in 12 Jahren schaffen müssen, wofür sie, die Herren Direktoren, und viele von uns, dem geneigten Publikum, sich noch 13 Jahre Zeit lassen durften.
Konkret: gleich 29 Wochenstunden für die Fünftklässler, was dann bis zur 8. Klasse auf 34 Stunden ausgeweitet wird. Plus reichlich Hausaufgaben. Und das bei Soll-Klassenstärken von 32 Kindern.
Klingt doch toll, oder? Da ist doch nun offenkundig Schluß mit lustig. Eine noch geeignetere Maßnahme, unsern Bildungsstandard pisamäßig aufzubessern, hätten die KultusministerInnen kaum erfinden können…!
Fast schon zu nett hingegen klang, was die Gesamtschulvertreter vorstellten: 13 Jahre Zeit bis zum Abi weiterhin, Konzept Schule in der Schule, also Klassenverband von der 5. bis zum Abitur, kleiner LehrerInnenkreis, der ebenso durchgezogen wird – und integrierender Unterricht für alle “Leistungsstufen” wenigstens bis zur 8., in der IGS sogar bis zur 10 Klasse.
Von sowas hätte ich geträumt als Schüler, wenn man es mir erlaubt hätte.
Die Gesamtschulen verteilen ihre Plätze per Losverfahren, die andern Schulen “nehmen jeden auf, der sich anmeldet.” Mehr muß man doch gar nicht dazu sagen, oder?

Aber vielleicht ist die Idee einer integrativen Gesellschaft auch einfach vorgestrig inzwischen, weil viel zu progressiv. Sie birgt doch einfach die Gefahr, daß mündigere BürgerInnen aus ihr hervorgehen als aus der rein leistungsorientierten, elitär selektiven Gesellschaft preußischer Prägung. Was sollen wir mit mündigen BürgerInnen in einer Welt, die außer Wirtschaftswachstum und steigenden Aktienkursen durch globale Ressourcenvernichtung keine Visionen zuläßt?

Erster Schnee


Letzte Nacht gingen die reichhaltigen Niederschläge irgendwann in Schneefall über und ließen mengenmäßig kein bißchen nach. Eine Viertelstunde vorm Wecken schon hörte ich die Kinder in ihren Zimmern rumhopsen und begeisterte Schnee-Rufe ausstoßen. War das eine gute Laune beim Frühstück! Als sei der Whynachzmann schon verfrüht eingetroffen.

Draußen lagen dann überall tatsächlich gut 5cm Schnee, in schwer geklutschter Form. So schwer, daß es so manchen dicken Ast dahingerafft hat. Auf den Straßen das übliche Chaos – jedes Jahr dasselbe. Mit dem Fahrrad echt nicht mehr lustig, zwischen den KlutschRillen, den riesigen schwarzen Lachen und den gnadenlos durchbrezelnden Autos, vor allem Taxen, die Balance und die Contenance zu wahren.

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Mein Freund der Baum


ist tot.

… ein Chanson von Alexandra.
Dieser Baum hier links im Bild (aufgenommen genau vor einem Jahr) existiert auch nicht mehr. Er ist letzten Winter gefällt worden.

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Bahnfahrn nur noch allein

War ja klar, daß es über kurz oder lang nicht mehr erwünscht sein würde, daß Leute sich zu Gruppen zusammen finden um gemeinsam Bahn zu fahren. Ist ja fast wie Wohngemeinschaften: Bahnfahrgemeinschaften. Spontan gebildet am Schalter womöglich.
Damit ist nun endlich Schluß. Der Mitfahrerrabatt wird gestrichen, nämlich.
Wenn mehr als einer fährt, dann gefälligst im Auto. Sonst werden die Züge eh zu voll. Und zu dreckig. Schließlich machen mehr Mitfahrer auch mehr Dreck. Und stellen dann womöglich auch noch mehr Ansprüche. Von wegen Entschädigung bei Verspätung und so.
Nee nee, da ist es schon wesentlich sinnvoller, das Bahnfahren nun doch wieder so unattraktiv zu machen, daß die Bahn selber sauber bleibt.
Also Herr Mehdorn, wie gehabt: weiter so! Augen zu und durch. Sie schaffen das.

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Balance-Akt

Ich lauf so durch die Stadt und denke: Woher nur dieser unwillkürliche, unkontrollierbare Drang nett zu sein? Warum positiv denken?

Nein, ich werde jetzt nicht Gründe dafür aufzählen, warum man sich eigentlich sofort die Kugel geben müßte. Genauso wenig ist mir jetzt danach Süßholz zu raspeln oder auch nur das Wetter schön zu reden.
Während ich so auf dem Bordstein balanciere, sorgfältig darauf achtend, immer genau auf die Ritzen zwischen den einzelnen Steinen zu treten, ab und zu aber auch mal ganz gezielt daneben, während ich mir also ganz zwanglos gestatte mich zwanghaft zu verhalten und mir dabei halb amüsiert, halb irritiert zusehe, lauert als einzige Antwort in einer dunklen Ecke direkt hinterm Horizont nur etwas, was ich gar nicht wissen möchte. Jetzt nicht. Und später erst recht nicht.

Lieber schnell in eine Drogerie einkehren, Kaugummi und Kondome kaufen.

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Mond Venus Jupiter


Es waren nur 10 Minuten vielleicht, aber die waren ergreifend, ja betörend.

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Ach wenn ich doch


damals nicht so blöd gewesen wäre!
Ausgerechnet 1989 meinte ich nicht photographieren zu sollen. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber es waren ganz sicher Gründe, die dem Atem der Geschichte, welcher uns da so mächtig anwehte, nie standgehalten hätten. Wenn ich mir das denn mal so richtig klar gemacht hätte.
Mitte 1990 wurde mir das allmählich klar und ich begann, viel zu zaghaft und zu spärlich und zu sporadisch hin und wieder kleine Touren in den Osten zu machen und den Fortschritt der blühenden Landschaften auf Celluloid zu bannen.

Heute vor 15 Jahren

schüttelte ich noch den Kopf über die Ereignisse entlang der Mauer. Ich wollte das nicht wahrhaben, daß es die Ossis im Ernst alle nur nach Westen zu drängen schien. Nachts saß ich in meinem Taxi, als ein Rudel öttelnder Trabbis frech die Fußgängerzone durchquerte, uns Taxifahrer als einzige Ansprechpartner ausmachte und uns ganz ohne Umschweife fragte, wo es denn nu das Begrüßüngsgeld gäbe.
Gott, man war gerührt, irgendwie.
Aber auch peinlich berührt. Das irgendwie auch, ja.
Und in ganz eigenartiger Weise hilflos.
Da waren diese Leute, die dann sehr schnell erstmal ihren ollen Gebrauchtwagen drüben für Phantasiepreise verhökerten und zuhause damit prahlten. So eine Art Goldgräberstimmung: drüben gab’s was zu holen. Schnell hin, ne Scheibe abschneiden vom Kuchen.
Ich hätte das nicht fertig gebracht.
Übrigens hätte ich auch nie nimmer nich gedacht, daß in so aberwitziger Geschwindigkeit dieses Ausmaß an Geschichtsklitterung zu leisten wäre – wie der Herr Dokter Kohl es dann aber doch leistete. Gemeinsam mit seinem wendigen Architekten Genscher und dieser Horde von wildgewordenen Einheizfanatikern.

Wir unternahmen irgendwann in diesem Winter mit unserm R4 einmal eine Expedition nach drüben, durch Dörfer, deren Namen wir nicht kannten, obwohl wir nur knapp 30 km entfernt wohnten, konnten nicht fassen, in welchem baulichen Zustand sich Straßen und Häuser befanden, noch weniger aber, daß in den Dörfern alles mit Girlanden behängt war, auf denen Sätze wie “Herzlich willkommen, Nachbarn!” standen. Und überall winkende Menschen in einer Kulisse, die an Nachkriegsfilme erinnerte.
Im Hinterkopf hatten wir noch das nerfige Prozedere am Grenzübergang Marienborn oder Dreilinden, Transit Berlin und zurück – und mochten noch nicht recht glauben, daß es nicht irgendein böses Erwachen gäbe, daß jemand meinen abgelaufenen Pass bemängeln oder unsern Kofferraum durchsuchen wollen könnte.
In Heiligenstadt stiegen wir aus und liefen durch die Straßen. Es roch nach Trabbis und nach Braunkohle. Sehr fremdartig. Sehr faszinierend, auch die Farben, Schriften und was da geschrieben stand, was in den Schaufenstern zu sehen und was dort nicht zu sehen war.
Die Leute sprachen eine andere Sprache als wir.
Zum Abschluß fuhren wir auf einen Hügel, um uns von dort aus die Schlange vorm Grenzübergang Teistungen anzusehen. Einige Festkilometer Trabbis. Der Geruch ihrer Abgase hing meilenweit so schwer in der Luft, daß man ganz high davon wurde.

Dunkler Schulweg



Seit Wochen ist es duster im Schulweg. Unbekannte haben in einer nächtlichen Aktion die Lampen zerstört. Genaueres war bislang nicht zu vernehmen. Auch nicht, ob oder wann sich an diesem Zustand etwas ändert.

Wenn man im Dunkeln dort entlang läuft, merkt man erst so richtig, wie uneben und gefährlich der Weg-Belag ist, wieviele Hindernisse in Form von Steinen, Ästen und Wegbegrenzungspömpeln das Stolpern erleichtern.
Was, wenn sich hier erst jemand ernsthaft verletzt?

Los Paul


du mußt ihm voll in die Eier hauen! sang die Deutsche-Welle-Combo Trio 1981. Damals fand ich das lustig.
Als ich heute Morgen so durch die seltsam warme Novemberluft lief und mich über den Gesang der Rotkehlchen und Amseln wunderte, naja oder auch nicht wunderte, weil es ja so warm war und mein Jahreszeitengefühl auch seltsame Schlenker machte, nun, ich lief also meine übliche Strecke, guter Dinge, es ging fast wie von selbst, das Atmen klappte hervorragend, alles im Wellness-Rhythmus, bis mir da so ein blödes Auto mit viel zu hellem Licht entgegenkam und mich blendete. Wie ein armes kleines Reh rannte ich nun zwar nicht auf die Straße, aber doch so weit an den Rand des Bürgersteigs, daß ich in den Bereich der in dieser Straße sporadisch vorkommenden Pömpel kam. So einen Pömpel aus Metall, rund einen Meter hoch, übersah ich, und rannte einfach rein.
Ohne das zu wollen, schrie ich. Einmal nur, aber laut.
Es war sowas von dicht daneben, daß mir allein davon schon schwarz vor Augen wurde. Dann fühlte ich schnell in die Hose, bemerkte erleichtert, daß ich da nicht nur noch Brei drin hatte und mir auch kein Blut entgegengespritzt kam, genau genommen sah man einfach gar nichts – aber weh tat es trotzdem säuisch. Zum Glück nicht lange.
Inzwischen kann ich wieder normal sitzen und meinen Namen ohne größere Aussetzer buchstabieren.

Was das mit diesem Photo hier zu tun hat?
Na, die geneigte Leserin wird es schon ahnen. Das Bild zeigt, wie es aussah, wenn ich morgens auf Lanzarote zum Flughafen lief. Und zurück. So sah dann das Meer aus.
Hier jetzt mal so quasi für mich selbst zum Trost.

Süd-Umgehung

Seit rund einer Generation ist eine sog. kommunale Entlastungsstraße südlich von Göttingen im Schwange. Wird immer mal wieder geplant, verworfen, vergessen, neu geplant.
Vor etwa 2 Jahren wurde das alte leidige Thema mal wieder aus der Mottenkiste hervorgekramt und wirbelt seitdem so viel Staub auf, daß man als potentiell betroffener Anwohner schon so manchen Hustenanfall hinter sich hat.
Bürgerinitiativen haben sich gebildet. Auf der einen Seite Straßenbau-Befürworter, die nichts besseres zu tun hatten als den gesamten Süden der Stadt mit gelben Schildern vollzupappen, auf denen ein „Ja zur Südumgehung“ angekreuzt ist. Als gebe es da eine Wahlmöglichkeit. Auf der anderen Seite Straßenbau-Gegner, die versuchen, mit sachlichen Argumenten Überzeugungsarbeit zu leisten, die umfangreiche Alternativen (nicht zum vorgesehenen Trassenverlauf, sondern zur Straße überhaupt) entwickelt haben – und die natürlich einfach recht haben.
Weil diese bescheuerte Südumgehung keins der Probleme lösen wird, dessentwegen sie gebaut werden soll.
Recht haben aber auch die Ja-Sager, weil die Verkehrssituation in den südlichen Einfallstraßen Göttingens nur als nacktes Grauen bezeichnet werden kann. Und das schon seit Jahrzehnten. Der Haken an der Sache der Ja-Sager ist nur, daß durch eine neue Straße keine wirkliche Entlastung stattfindet, sondern lediglich eine partielle Umverteilung. Der Leidensdruck indes ist offenbar so groß, daß jedes Mittel recht erscheint: Hauptsache, es passiert überhaupt mal was! Denn die Göttinger Politiker haben in der Vergangenheit vor allem eins prima verstanden: die Leute hinzuhalten, sie mit vagen Versprechungen zu vertrösten – um dann letztlich nichts zu tun.
Es ist jedoch niemandem gedient, in dieser arg bescheidenen Lage irgendwelchen blinden und letztlich sinnlosen Aktionismus zu entfalten. Die Gemüter sind erhitzt, die Politiker verwechseln Argumente mit Wunschdenken und glauben immer noch an das Wachstum.
Wachstum? In der Innenstadt macht ein Geschäft nach dem andern Pleite. Ein Filetgrundstück liegt seit Jahren brach, weil es niemand haben will. Draußen an der Autobahn, auf der grünen Wiese wird für ein neues Gewerbegebiet, den Kaufpark 2, die dort ohnehin nur noch sehr spärliche Landschaft planiert. Mitten in der Stadt wird ein ganzes Viertel für einen neuen Supermarkt plattgemacht (wer soll da eigentlich einkaufen?!).
Wie lange wird es wohl dauern, bis das auch alles Investitionsruinen sein werden?
Bis dahin werden wir aber allein schon durch all die Baumaßnahmen reichlich Verkehr erzeugt haben, der dann wieder den Bau neuer Straßen rechtfertigt, die wieder neuen Verkehr anziehen – und so weiter und so fort.
Ein Teufelskreis, der dazu führen wird, daß Göttingen irgendwann jegliche Attraktivität verlieren wird, weil es eigentlich nur noch ein einziger großer Parkplatz sein wird. Zugeparkt mit schrottigen Autos, deren Besitzer wegen Arbeitslosigkeit kein Geld für’s Benzin haben werden und sowieso nirgends hinfahren wollen, weil es überall gleich aussieht.
Die Luft wird schlechter denn je sein, weil es keine Bäume mehr gibt, die sie reinigen und für Sauerstoffzufuhr sorgen könnten. Da sei schon mal der Fachbereich Stadtgrün vor.

Alles Themen, die in diesem Blog schon weidlich durchgekaut worden sind. Immer wieder neu, immer wieder schlecht. Und trotzdem muß es einfach mal wieder gesagt werden: so ist das doch einfach alles Mist!

Nötig, ja dringend angesagt wäre mal ein Konzept für die ganze Stadt, das den Handel in der Innenstadt tatsächlich fördert, statt ihm durch Kaufparks am Stadtrand tödliche Konkurrenz zu bereiten. Nötig wäre ein Verkehrskonzept, das für eine nachhaltige Verkehrsberuhigung, vorzugsweise durch Vermeidung sinnloser Wege, sorgt. Nötig wäre ein öffentliches Nahverkehrssystem, das schon durch seine Attraktivität geeignet ist, Verkehrsteilnehmer aus dem Auto in den Bus oder die Bahn zu locken.
Und besonders nötig wäre es mal, etwas für die nachwachsende Generation zu tun: Kindergärten und Schulen zu fördern, stressfreie Beförderung von Kindern in Bussen zu ermöglichen, Radwege so auszubauen, daß man sie auch gemeinsam mit Kindern befahren kann – um nur mal ein paar wenige der allernötigsten Dinge zu nennen. Aber da ist kein Geld für da. Alle Kassen leer. Schreckliche Ebbe.

Welch ein besonderer Zynismus, in solcher Situation die Zerstörung des letzten größeren zusammenhängenden Stücks freier Landschaft am Göttinger Stadtrand zu betreiben – ohne Sinn und Verstand!

Lünemann – der Abriß (4)





Auf dem Gelände des ehemaligen Sanitär- und Installationsbedarfseinzelhandelsgeschäfts Lünemann, in dem man von der Kaffeemaschine über den Sonnenschirm bis zum einzelnen Nagel fast alles bekam, fachkundig beraten wurde, wenn auch mitunter aufgrund der verschlungenen Architektur mitunter leicht die Orientierung verlor – auf diesem Gelände also soll nun ein Kaufland entstehen. Mit Tiefgarage und allem Pipapo, was man heutzutage so braucht. In der Innenstadt. Während draußen vor der Stadt gerade Kaufpark II gebaut wird.
Und nachdem während die Riesenkreuzung unmittelbar vor dieser Baustelle gerade umfänglichst umgebaut worden ist wird.
Denn trotz riesiger Tiefgarage mit hunderten von Parkplätzen und obwohl so ein Riesensupermarkt möglicherweise allmorgendlich von zig großen LKWs beliefert werden wird, ist eine Mehrbelastung des lokalen Verkehrsaufkommens laut Stadtverwaltung nicht zu erwarten.
Da lehnt man sich doch beruhigt zurück und läßt die Dinge auf sich zukommen.

Übrigens ist man da zwar sehr munter am Abreißen. Aber ein Generalunternehmer für den Wiederaufbau ist noch nicht gefunden. Die Ausschreibung läuft.

Lünemann – der Abriß (2)



Rückschau vom 25.10.2004: der Turm wird zerlegt.
Die Ähnlichkeit mit der Entstehung von ground zero, auch während des Aktes der Zerstörung, läßt einem immer mal wieder den Atem stocken. Auch ohne Flugzeuge und ohne Personenschäden.