Als ich 1978 nach Göttingen zog um dort ein Studium zu beginnen, war ich noch etwas unerfahrener als heute, was den Wohnungsmarkt anbelangt. Gar zu arglos und unbedarft verfolgte ich zunächst den Plan, mit einem Schulfreund eine WG zu gründen.
Es gab noch kein Internet, nicht einmal Faxgeräte. Das bedeutete, man musste samstags ziemlich früh morgens vor Ort sein, an einem Kiosk eine Lokalzeitung (damals wie heute das GT) kaufen und sich zum Anzeigenteil durchkämpfen, in dem es zu dieser Zeit auch Wohnungsangebote gab. Diese arbeitete man geflissentlich durch, markierte in Frage kommende und nahm dann, in der Regel telefonisch, Kontakt mit den Vermietern auf. Es gab auch Chiffre-Anzeigen, auf die man nur per Brief reagieren konnte. Und es gab Makler, die man anrufen oder an Werktagen aufsuchen konnte.
Das erste Problem war, dass wir, um rechtzeitig an einem Samstagmorgen in Göttingen sein zu können, von Hannover aus irgendwann mitten in der Nacht hätten losfahren müssen. Was aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kam. Das nächste Problem war, dass, wenn wir gegen Mittag von einer Telefonzelle aus die Nummern abtelefonierten, die meisten Wohnungen bereits vergeben waren. Von den übrigen wollte kein Vermieter seine Wohnung 2 jungen Männern anvertrauen, weil die ja vermutlich entweder ständig Damenbesuch haben würden oder, was noch schlimmer wäre, Herrenbesuch. Was uns mehrmals nachgerade wörtlich so gesagt wurde.
Nach 4 Wochen gaben wir den Versuch auf. Der Semesterbeginn stand vor der Tür.
Ich bekam durch Vitamin B ein Zimmer zur Untermiete im Ostviertel, in der Grotefendstraße. Darüber war ich sehr froh, weil ich so einfach erstmal ein Bein in Göttingen hatte und mir dachte, dass ich von dort aus natürlich viel leichter nach einer geeigneten Wohnung für eine WG suchen konnte.
In der ersten Woche war ich zu Fuß unterwegs in der Stadt.
Zunächst stand ich in der Schlange, die einmal rund um den Wilhelmsplatz und noch weit bis in die Barfüßerstraße hinein reichte, um mich nach ein paar Stunden Wartens, bei dem schon erste Freundschaften geschlossen werden konnten, immatrikulieren und mein Studienbuch nebst zig Merkzetteln und Flugblättern in Empfang nehmen zu können. Wie streng das alles ablief! Flur und Treppenhaus vor dem Immatrikulationsbüro hingen voll mit Hinweisen, Verboten, Ermahnungen und Warnungen, was wann wie in welcher Reihenfolge unbedingt bzw. keinesfalls getan werden durfte, sollte und musste.
Umso erholsamer waren die Erstsemester-Veranstaltungen an meiner Fakultät, die neben weiterhin mehr als genug formalem Zeug auch mal die Dinge zur Sprache brachten, um deretwillen ich schließlich studieren wollte: wann die erste Party stattfand, welche Kneipen und Discos zu empfehlen waren – und: dass die Teilnahme an Lehrveranstaltungen natürlich freiwillig geschah. Freiheit der Lehre! Erleichtert nahm ich das zur Kenntnis und – vielleicht zu wörtlich, zunächst.
Die Grunddisziplinen meines Fachbereichs boten ihre Einführungsveranstaltungen alle nachmittags oder abends an, was meinem Lebensrhytmus sehr entgegen kam. So konnte ich gut die Vormittags verschlafen, um abends das Göttinger Nachtleben gründlich zu studieren.
Ab der zweiten Woche war ich mit meinem Dreigang-Rad auch deutlich mobiler. Ich erinnere mich jedoch gut, wie steil die Grotefendstraße wurde, wenn ich nachts nach ein paar Bier und reichlich Zigaretten aus dem Trou, dem Altdeutschen oder dem Omega dort hinauf radelte. Und wie endlos diese Steigung sich anfühlte! Endlich im Flur zu meinem Untermiet-Zimmer angekommen, musste ich immer furchtbar husten. Das hallte dort grausam und weckte gefühlt den ganzen Stadtteil. Ich war jedes Mal voll des schlechten Gewissens – und sehr froh, dass sich niemand je wirklich darüber beschwerte. Meine Vermieter, ein altes Professoren-Paar, waren vermutlich schwerhörig genug und mein Zimmernachbar selbst nachtaktiv.
Zum Frühstück kaufte ich regelmäßig im Edeka in der Ewaldstraße ein Glas Nescafé Mokka und Nutella, dazu abgepacktes Brot. Da gab es einige Sorten mit Körnern, schön dünn geschnitten. Das mochte ich gern. Ach ja, und Margarine.
Ein paar Schritte weiter, Ecke Am Kreuze, gab es eine kleine Postfiliale, wo ich von meinem Postscheckkonto Geld abheben konnte. Dafür musste ich mir selbst Schecks ausstellen, die ich in meinem Zimmer sorgsam vewahrte. Für Überweisungen oder Einzahlungen aufs Konto hatte ich entsprechende Formularblöcke zuhause. Alles in allem ein kleines Postamt daheim, nur entsprechende Stempel fehlten noch. Geldautomaten gab es noch nicht. Und wenn, hätte ich sie nicht nutzen wollen. Die persönliche Begegnung mit dem Postbeamten von Angesicht zu Angesicht am Schalter gehörte unbedingt dazu.
Mittags frühstückte ich in der Regel zu erst. Wenn ich aus besonderem Anlass oder aus Versehen schon einmal vormittags auf den Beinen war, dann ging ich zum Mittagessen in die Zentralmensa. Schon das Schlangestehen war dort spannend. Nicht nur wegen der endlosen Büchertische von KBW, DKP, KPD-ML oder all den anderen K-Gruppen, die dort wohnten, sondern auch wegen der vielen jungen Frauen und Männer, die am Rande der Schlange darauf warteten, uns mit den aktuellsten Flugblättern zu versorgen. Von denen die meisten später im Essenssaal auf den Tischen liegen blieben.
Am meisten eingenommen haben mich in Göttingen nicht die Fachwerkhäuser, obwohl ich die sofort nett fand, sondern der Wall und das vor allem bei Schnee. Ich war echt verzückt, dass es mitten in der Stadt verschneite Wege gab, die zusammen mit den verschneiten Dächern eine tiefromantische Atmosphäre schufen. Das kannte ich aus meiner Heimatstadt so nicht.