Ich kann mich gar nicht genau erinnern, wie lange sie darauf gewartet hat. Erst hatten wir sie vertröstet, weil sie noch zu klein war. Dann ergab sich länger nicht die passende Gelegenheit. Schließlich waren wir bei einem Juwelier und dann wollte der nicht, weil es ihm entweder wirklich zu heikel war oder weil er die passende Ausrüstung einfach nicht hatte. Er verwies uns stattdessen auf den HNO-Arzt. Und da waren wir nun gestern. Endlich.
Im Nieselregen hole ich sie mit dem Fahrrad vom Ballett ab, wo sie mir inmitten der andern rosanen Ballettmäuse schon munter und in der ihr eigenen stillen Aufgeregtheit auf den Arm springt. Schnell, viel schneller als sonst, ist sie umgezogen und sitzt hinter mir auf dem Rad, mit dem wir in die Stadt gondeln. Bis zum Termin bei Frau Doktor ist noch Zeit. Ich will ihr ein Eis spendieren, sie schaut mich groß an und sagt mit deutlichem Bedauern: du, Papa, eigentlich habe ich jetzt gar keinen Hunger auf Eis. Erst als ich ihr verdeutliche, daß wir noch eine halbe Stunde warten müssen, kommt der normale Appetit allmählich zurück.
Und dann schlendern wir durch die Stadt, sie mit einer Kugel Waldmeister, ich mit Schokolade.
In der Praxis freundliche Begrüßung: ach Sie sind das. Mit den Ohrlöchern. Ja, wir haben telefoniert.
Und schon sitzt Li Si auf dem Stuhl, ganz die konzentrierte Ruhe, ernstes Gesicht, unglaublich diszipliniert. In solchen Momenten bin ich tief bewegt von der Eindeutigkeit ihres Wollens, der Kraft ihrer Persönlichkeit.
Die Arzthelferin markiert die Lochstellen an den Ohrläppchen mit einem Stift, kontrolliert die Symmetrie, läßt das Kind mit dem Spiegel ebenfalls prüfen, ob alles richtig sitzt, und selbst der Vater muß noch sein OK geben, bevor die Pistole endlich angesetzt wird und nach einem kleinen Pling das erste Loch sitzt. Und in ihm drin der erste türkis glitzernde Stecker, den wir zuvor aus einer viel zu großen Kiste sehr ähnlicher Stecker ausgewählt haben.
Wie weh es dann wohl doch getan hat, merkt man ihrem Gesicht nicht an. Nur, daß sie sich völlig unter Kontrolle hat.
Ich halte ihre Hände und bin sehr stolz und beeindruckt.
Sobald auch das zweite Loch sitzt, und zwar perfekt sitzt, bekommen wir noch ein kleines Fläschchen Desinfektionslösung und den Rat mit auf den Weg, nicht mit dreckigen Fingern an die Löcher zu gehen. Konsequent und diszipliniert zieht mich das Kind direkt auf die Toilette, wo sie sich gründlich wie nie mit Seife die Finger wäscht und abtrocknet, um dann vorsichtig und stolz und nur ein klein bißchen unsicher, dafür aber sehr glücklich mit ihren Händen fühlen zu können, daß sie nun Stecker in ihren Ohren hat, und also Löcher.
Endlich.
Was für ein großer Moment. Die Heimfahrt wird trotz Nieselregen und Müdigkeit zum Triumphzug.
Ach Grapf, sowas darfst Du doch nicht machen. Wie sieht das denn aus, wenn ich wieder mit Tränen in den Augen in meinem Büro vor dem PC sitze. Was für eine rührende Geschichte.
mir versteckt sich auch gleich eine träne im knopfloch. hach…
Wundervoll, unglaublich wundervoll … [Bitte audiovisulisieren Sie hier ein herzensteifes Seufzen]
Wie schön!