Kurven auf La Palma (geschrieben 2003)

Nach ein paar Tagen faulem Strandleben zog es uns in die Berge. Auf Vulkane wandern. Was für eine Aussicht! Im gemieteten nietennagelneuen Polo, die Kinder hinten drin, ging es steile, enge Kurven hinauf. Beidseits der Straße endlose öde Bananenplantagen, fahren wie zwischen Gefängnismauern, in die Gefangene mit Fingernägeln Luftlöcher geschabt haben.
Zwischendurch – recht erholsam – Siedlungen mit Baukastenhäusern, weiß gekalkt, ein paar hochstielige Dattelpalmen, fast wie am Sunset-Boulevard. Aber natürlich ganz anders.
Spanien.
Genauer: Canarias. Und zwar La Palma.
Hinten in der Mitte saß Li Si, fest verschnallt, Schweißperlen auf der Nase und sang “Papa da, Mama da – Mama ja, Papa nei”, manchmal auch “Do da du da do da”, Heli und Greg an ihren Seiten lesend, vertieft in spannende Geschichten, während Papa und Onkel vorn staunend, begeistert, wenn auch noch etwas steif in den Gliedern ihre Nasen an die Windschutzscheibe drückten. Hie Blick zum Meer, da riesiges Lavafeld, hinten rechts Wolkenwasserfälle.
Häuser, Berge, Sensationen.
Und die Kurven, eine nach der andern, eine enger als die andere, und der Papa, dem das Kurven Spaß macht, das Kurven mit dem kleinen Flitzer, immer enger immer schneller immer flotter immer besser.
Mir ist schlecht, kam es plötzlich und ziemlich cool von Heli aus der linken Ecke.
Ja? fragte ich, vor mir schon die nächste Kurve. Will wohl schon mal ihre nächste Auszeit vorbereiten, dachte ich. Nicht daß sie nachher beim Picknick auch noch was essen muß. Oder gar wandern, bergauf womöglich.
Nein, dachte ich gar nicht so direkt. Väter denken nicht so konkret. Schon gar nicht beim Auto fahren. Es war eher so ein marginales Gefühl.
Da platschte es auch schon.
Höchstens eine tausendstel Sekunde später war mir klar, was da platschte und daß ich die Situation offenbar völlig falsch eingeschätzt.
Hatte.

Und ehe das Gehirn an die das Auto steuernden Gliedmaßen Befehle hätte absetzen können, kam auch schon der zweite Ruf, aus der rechten Ecke: mir auch. Greg auch.
Nein, noch kein Platsch. Aber lange konnte das ja wohl nicht mehr dauern.

Zweckmäßigerweise gab es gerade zu diesem Zeitpunkt rechts einen Fahrbahnrand. Also da hin gesteuert, Tür aufgerissen, rausgezwängt, Sitz nach vorn, Heli – ach herrje, ihre Hose, ihr T-Shirt, der Gurt, der Sitz, die Rückenlehne des Vordersitzes, die Fußmatte – alldas im Mietwagen – all diese Eindrücke, gedanklichen Sortierungen, Schrecken innerhalb etwa einer Hundertstel Sekunde.
Heli raus aus dem Auto, nur zusehen, daß der Papa nicht mit dem Erbrochenen in Berührung – allein der Geruch drängt mit dieser kratzenden Unentrinnbarkeit direkt in den Magen.

Auf der rechten Seite des Polo fast das gleiche Bild: der hinaus hechtende Onkel, Greg von selbst hinterher und noch ehe er den Boden des Fußwegs erreicht, platscht es auch schon dort: volle Breitseite mitten auf den Fußweg, gerade so vor den Eingang eines Hauses.
In dessen Vorgarten ein älterer Herr seinen Samstag-Morgen damit zubrachte, die Rabatten zu sprengen.
War eine noch peinlichere Situation denkbar?
Wie konnte man das jetzt entschuldigen?
Wie wieder gut machen?

Wie im Schock entzog ich mich der Situation, machte mich hektisch und extrem energisch sofort an die Reinigung des Autos. Das angenagte Tempo aus meiner Hosentasche schien erstmal genau richtig dafür. Der Onkel bei Greg, Heli auf Befragen schon wieder ganz okeh, erste Gefahr gebannt. Schaden begrenzen. Zuerst den nächstliegenden.
Als sei das logisch.

Sehr folgerichtig indessen der ältere Herr, bewegte seinen Gartenschlauch ruhig und freundlich auf uns zu, spritzte mit geringem Aufwand und ohne Aufhebens alle peinigenden Spuren vom Fußweg auf die Straße, wo sie aufgrund ausreichenden Gefälles sehr schnell den Blicken entschwanden. Ich bekam es gar nicht mit.
Freundlich zupackend auch seine Frau, die, wie aus dem Nichts aufgetaucht, plötzlich da steht, großzügig Zewa-Tücher verteilt und in langsamem Spanisch nach dem Befinden fragt. Dankbar nahm ich die Zewa-Rolle. Von meinem Tempo war doch nicht mehr wirklich viel übrig, die inzwischen schon krümeligen Spuren im Auto aber noch lange nicht beseitigt.

Mit den vom Gehsteig gespülten Pfützen des Erbrochenen war die Peinlichkeit schon verflogen. Die Dame des Hauses kam nun mit Apfelsinen, schönen, fast wie Pampelmusen großen Früchten, die mit ihrem Aroma sogleich alle Gedanken an Unangenehmes vertrieben. Die Kinder griffen zu. Fast schien es, als wollten sie direkt reinbeißen. Li Si mußten wir tatsächlich vorsichtig aber bestimmt davon abhalten. Letztlich gelang das nur, weil Senora nun auch noch Äpfel und Birnen auf einem kleinen Tablett servierte.

Nun standen wir schon etwas bedröppelt da herum, nein nicht peinlich berührt, aber irgendwie peinlich berührt.
Der Papa war endlich mit seinem albernen Gewische fertig, sagte zum zehnten Mal Gracias und muchas Gracias, unterstützt durch verbindlichstes Lächeln, fehlte nur noch die Verbeugung, dachte, jetzt müssen wir aber endlich mal weiterfahren und wie kriegen wir jetzt bloß die Kurve!
Doch da waren die beiden hilfsbereiten Menschen auch schon wieder mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Der Mann setzte das Sprengen seines Vorgartens fort, die Frau stieg die Treppe hinauf ins Haus zurück.

Wir saßen schnell wieder im Auto und ich fuhr nun die Kurven alle einzeln und sehr sehr langsam.
Alle dreißig Sekunden drehte der Onkel sich um, musterte die Kinder scharf und eindringlich, fragte, ob es ihnen gut gehe, nahm ihnen die Bücher weg, weil die Übelkeit durch das Lesen sicher noch verstärkt –

Ich dachte: wie schön. Da haben wir nun zwar ein Mißgeschick gehabt, aber durch das so überaus freundliche Entgegenkommen der Leute dort ist es beinahe zu einem schönen Erlebnis geworden. Einem Erlebnis jedenfalls, das erzählenswert ist. An das wir uns gern erinnern werden.
Und ich fragte mich, wie ich in vergleichbarer Situation zuhause reagieren würde.
Schnell wurde mir jedoch klar, daß es da gar keine vergleichbare Situation gab, würde geben können –
wir wohnen nicht am Berg, auch nicht direkt an der Straße, es gibt bei uns keine kurvigen Straßen, ich sprenge samstags nie den Vorgarten, und wenn, dann abends. Aber unser Vorgarten ist auch gar nicht direkt an der Straße.
Und so große Apfelsinen gibt es zuhause auch nicht.
Also wären wir wohl vor ähnlichen Situationen ausreichend gefeit.
Zum Glück.

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