Göttingen erlaubt es sich, mitten in der Stadt ein großes Stück des völlig intakten ehemaligen Gothaer Areals an der Geismar-Landstraße abzureißen, um mit weit größerem Platzverbrauch und viel mehr Flächenversiegelung neue Betonburgen errichten zu lassen. Nachhaltigkeit, klimaschonendes Bauen, lebenswerter Wohnraum oder gar Verkehrsvermeidung sind hier weder für die Mehrheit im Stadtrat (SPD, CDU, FDP) noch erst recht für die Stadtverwaltung relevant. Investorengerechtigkeit allein zählt.
Ähnliche Pläne gibt es für das sogenannte Grotefend-Areal am Weender Tor und das ehemalige Postgebäude neben dem Bahnhof. Allen Plänen gemein ist ihr Entstehen unter strikter Nichtbeteiligung und Ausschluss der Öffentlichkeit – entgegen vorherigen anderweitigen Zusagen.
Wenn dem Volk die schicken Betonbunker nicht gefallen, sollen sie doch in eine Villa im Ostviertel ziehen!
Auf dem Bauplatz Im Kolke (Bild oben) stand bis vor kurzem noch ein altes Fachwerkhaus. Wie man an den Häusern im Hintergrund erkennt, befindet sich die geplante Wohnanlage mitten im Altdorf Geismar, in einer schmalen Anlieger-Einbahnstraße. Einmal abgesehen von der nicht wirklich feinfühlig eingepassten Architektur wird sicher auch der Fahrzeugpark für 8 Wohnparteien zwar möglicherweise in der Tiefgarage Platz finden, jedoch für seine täglichen Wege zu Arbeit, Einkauf, Sport Platz eher über Gebühr in der engen Umgebung beanspruchen.
Was die Stadt benötigt
Es steht außer Frage, dass Göttingen neuen und zusätzlichen Wohnraum dringend braucht. Das ist aber nur ein Bedarf von vielen, denen sich die Stadt (und sicher nicht nur Göttingen) stellen muss. Existentiell wichtig ist auch klimaschonendes bzw. dem sich wandelnden Klima angepasstes Bauen. Nichts ist dafür wichtiger und wirksamer als Grünflächen: Am Haus, auf dem Haus und um das Haus herum.
Anforderungen an die Architektur
Wie wir nicht erst seit Corona wissen, wird Architektur für Städte unbedingt auch lebenswertes Leben und Möglichkeiten zur Krisenbewältigung bereithalten müssen. Dazu gehören zB Balkone für jede Wohnung, flexibel nutzbare Flächen, Gemeinschaftsräume und Freiflächen zur variablen Nutzung. Dazu gehört aber auch eine Ästhetik, die Geist und Gemüt anregt. Inwieweit die zeitgenössisch vielfach verbauten weiß-grauen Würfel dafür geeignet sind, möchte ich gern mal explizit zur Diskussion stellen.
Wohlfühlen wär auch schön
Baushaus-Gebäude in Dessau
Ja, Anklänge an Bauhaus sind seit Jahren en vogue. Und ja, unsere zeitgenössischen farblosen Würfel haben Anklänge ans Bauhaus. Und was sagt uns das heute? Was löst es aus, wenn man auf solcher Art Wohnflächen blickt? Wie fühlt es sich an in Vierteln zu wohnen, die nur aus solchen Bauten bestehen? Woher bekommt die Phantasie ansprechenden Raum und Anregung? Wie erklärt man anderen Menschen, wo man wohnt?
Früher war nicht alles besser
Auch vor hundert und mehr Jahren wurden bereits für kleines Geld große Wohnanlagen gebaut. Ein wesentliches Merkmal war immer schon Gleichförmigkeit. Man denke zB an die endlosen Wohnschluchten aus der Gründerzeit in den Großstädten.
Wohnviertel in Hannover
Aber auch genauso an Reihenhaussiedlungen nicht nur in Deutschland, sondern noch krasser in England, das schließlich die Wiege der industriellen Revolution und damit auch Mutterland der Arbeiterwohnviertel war.
Göttingen, Windausweg
Göttingen, Leineaue
Göttingen, Weende
Göttingen, Weende
Göttingen, Geismar
Während allerdings in früheren Jahrzehnten die einzelnen Hausteile in sich noch vielfach untergliedert, farblich abgesetzt, mit unterschiedlichen Materialien erbaut worden waren, so ist es aktuell tatsächlich nur gleichförmige, farblose Fläche. Der Blick findet nirgends Halt und es gibt beim besten Willen keinen Wiedererkennungseffekt.
Die Frage des Reibungskoeffizienten
Natürlich muss sich Bauen lohnen. Auch für den, der baut. Sonst tut es keiner. Es gab einmal eine Zeit, da baute auch der Staat Wohnungen. Im Zuge von Neoliberalismus und Globalisierung ist dies allerdings gänzlich zugunsten fast völliger Privatisierung des Wohnungsbaus zum Erliegen gekommen. Der Staat, das Land, die Kommune haben heute in dieser Hinsicht nur noch abzunicken, was Investoren vorschlagen. Bestenfalls werden noch Ausschreibungen gemacht, deren Entscheidungen oft intransparent bleiben. Die Veränderung der Infrastruktur durch Globalisierung und monopolisierten Handel hat ein Aussterben der zu sehr konsumorientierten Innenstädte zur Folge. Die vielen Leerstände von Immobilien sind oft jahrelang nicht neu zu vermitteln. Da ist die Stadt dann irgendwann jedem dankbar, der überhaupt nur sagt: ok, ich mach da was. Egal was. Egal wie.
Und in der aktuellen Wohnungsnot bekommt jeder Investor, der das Wort Wohnraum nur buchstabieren kann, den roten Teppich ausgerollt.
Wir, die Menschen, bleiben trotzdem die Einwohner der Stadt. Wir wollen nicht nur, wir müssen hier leben.
Letzte Fragen
Gehört die Stadt den Menschen, die in ihr leben, oder irgendwelchen globalen Investoren?
Wie wird es sich hier in zehn, zwanzig Jahren leben, wenn investorengerechtes Bauen das einzige Primat ist?
Wie und wohin sollen unsere Kinder und Enkel all den kaum recyclebaren Bauschutt künftig entsorgen?
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