Gedenktag

Neunter November. Zwanzig Jahre ist es also nun her. Das historische Ereignis, bei dem die meisten Mitglieder meiner Generation wissen, was sie an dem Tag gemacht haben. Ich kann mich nicht so explizit dran erinnern. Ähnlich wie Herr Küppersbusch habe ich diesen Tag wohl verpennt. Wie auch die folgenden.
All diese Aufregung damals. Mir war das höchst suspekt. Das Wort „Wiedervereinigung“ allein schon konnte ich nicht aussprechen, ohne übel Sodbrennen zu bekommen. Es war einfach zu sehr von den Rechten und anderen reaktionären Kräften besetzt. Und von diesem Herrn Kohl natürlich. Und Genschman. Also indiskutabel.
1989
Was paradox war, weil wir Gorbi und Schewardnadse auf der andern Seite wirklich cool und sympathisch fanden.
Zugleich verharrte ich – nicht nur durch gewisse Durststrecken der eigenen Biographie – in so einem seltsamen Zustand der Lähmung. Ich wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht. Und selbst wenn, was ging es mich an! Damals. Ich kannte keinen Bürger der DDR persönlich, hatte seit 1972 lediglich auf der Transitstrecke nach Berlin unfreiwillige Blicke in dieses immer graue und verwahrlost wirkende Land geworfen und lebte eigentlich mit der Vorstellung, daß die bewohnbare Welt etwa 20 km südöstlich von Göttingen aufhöre, ganz gut. Im Zonenrandgebiet zu wohnen hatte Charme. Es gab Strukturförderung, was zugleich bedeutete, daß es eigentlich keine Struktur gab, keine großen Wirtschaftsbetriebe, kaum durchreisenden Verkehr, wenig Aufsehen. Und daß hinter dem großen Zaun die Landkarte ausgegraut war, schaffte Behaglichkeit. Man mußte dort nicht weiterdenken.

Aus sicherer Entfernung und von hoher Warte den endlosen Trabbi-Schlangen zuzuschauen, die über den Grenzübergang Teistungen im Eichsfeld gen goldenen Westen tuckerten, um nach Abholung des Begrüßungsgeldes die Bananenbestände unserer Lebensmittelläden leerzukaufen, das war einfach nur surreal. Wie in einem abgedrehten Science-Fiction von Monty Python. Auch unsere erste Fahrt in den Nahen Osten, im geschlossenen PKW einreisend, mit mulmigem Gefühl den Reisepass den Grenzern entgegenhaltend, die gar nicht mehr stempelten, sondern nur noch durchwinkten. Winkten wie die Dorfbewohner im Eichsfeld, all die Kinder, die Girlanden über den Straßen („Willkommen Nachbarn!“), mitten im tiefsten und scheußlichsten Spätherbst. Zu Nieselregen (wie heute) und Braunkohlenheizungsausdünstungen. Als wir in Heiligenstadt ausstiegen und ein paar Schritte durch die graue Fußgängerzone machten, atmeten wir diese Gerüche ein, nahmen diese seltsame Stille wahr, diesen Stillstand in den Schaufenstern, der an Spielfilme aus der frühen Nachkriegszeit erinnerte, und fühlten uns buchstäblich wie nie zuvor im Leben. Seltsam berührt, angezogen von der Vorstellung, in eine Zeitmaschine geraten zu sei, und zugleich ratloser denn je. Es war ja total nett, daß die Bewohner der DDR uns als Nachbarn begrüßten. Aber was dann? Was sollte daraus werden?

Heute verspüre ich eine ähnlich Hemmung mich groß zu regen wie damals vor 20 Jahren.
Wie soll man sich auch äußern, wenn das kollektive Gedenken durch multimedialen Overflow in Bahnen gehypet wird, vor denen man sich sich erst mal nur in Sicherheit bringen will. Denke ich vielleicht, weil ich heute genauso wenig drin vorkomme wie 1989. Mit der Geschichte, die dort gemacht wurde und seitdem gemacht wird, wollte ich nie etwas zu tun haben. Sie ist nie meine geworden.
Oder doch?

Im Laufe der Zeit habe ich durch Freundschaften mit OstbewohnerInnen und durch Reisen einen anderen Zugang zu Deutschland und zum Osten errungen. Eine Entwicklung hin zu einem Zustand, den ich persönlich positiv nennen möchte.
Ich bin gelegentlich in Ostberlin gewesen, in Heiligenstadt, Mühlhausen, Erfurt, Gotha, Leipzig oder Dresden, auf Rügen oder im Spreewald. An einigen dieser Orte fingen persönliche Geschichten an, zu denen ich mir sofort Fortsetzungen wünschte.
Die Mauer in meinem Kopf ist nicht weg, so gar nicht, aber sie ist von einer Weltgrenze zu einer Brücke mutiert.

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  1. Sigurd

    Versuch einer Antwort: vielleicht ist es doch ein stückweit eine Generationenfrage. Beim Mauerfall war ich noch ein Kind, 10 Jahre alt, und lebte in West-Berlin. Ich erinnere mich sogar noch gut an die Mauer, was einfach daran liegt, daß wir quasi um die Ecke von ihr wohnten. Für mich war es normal, daß die Welt hinter der S-Bahnbrücke nicht weiter ging, weil da eben diese Mauer stand und der Bus vor ihr wenden mußte. Endstation. Die Mauer. Ich kannte es nicht anders, insofern normal. Und ich habe dann erst in der Folge nach dem 09.11.89 erlebt und erfahren wie unnormal das doch wirklich war. Habe Verwandte ‚hinter der Mauer‘ kennengelernt, später auch dort Freunde gefunden, ‚meine‘ Stadt und ihre besondere Geschichte entdeckt. Und auch wenn es wohl zu den Folgeereignissen dieses Datums gehört, daß ich der Arbeit hinterherziehen mußte und Berlin verlassen, so kann ich doch sagen: den medialen Overflow bräuchte ich auch nicht unbedingt, denn heute ist mein persönlicher Feiertag. Und mir jedenfalls nicht minder wichtig als die christlich-kommerzialisierten Feiertage im Jahr.

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